Von „Corona“ bis „Canal Misère“

 

Es ist Anfang Juni 2020. Wir gehen einem unsicheren Sommer, geprägt durch die Corona Krise entgegen. 2 Monate geplantes Böötlifahren haben wir bereits verloren. Die Grenzen sollen am 15. Juni für touristischen Verkehr öffnen, wir haben aber keinen Bock noch länger zu warten. So füllen wir Selbstdeklarationsformulare aus, auf Grund derer man schon jetzt seine Ferienwohnung oder das Ferienhaus ennet der Grenze besuchen kann. Unser Haus: Das (Haus-) Boot „La Vie“. Es steht im ostfriesischen Hafen von Leer und der Hafenmeister bestätigt uns diese Tatsache zur Sicherheit noch per Mail.

 

Wir überqueren im fast leeren ICE bei Basel die Deutsche Grenze und überhaupt gar niemand interessiert sich für unsere schönen, selbsterstellten Dokumente. Angekommen in Leer stehen der übliche Frühlingsputz, das Auswintern und der Einbau eines neuen Kühlschranks an, welchen wir erst per Mietauto in Bremen holen müssen. Gleichzeitig lernen wir auf dem harten Weg, dass es in Deutschland ohne Maske strikte keinen Einlass in Restaurants, Bäckereien und Läden gibt. Wir lernen, dass halt wieder zurück zum Schiff wandert, wer das gute Teil vergessen hat.

 

Die Reise südwärts auf Ems und Dortmund-Ems-Kanal geht zügig voran. Wir haben beschlossen, trotz der eingeschränkten Reisezeit am ursprünglichen Programm festzuhalten und bis nach Corre in der französischen Vogesen zu fahren. Dort wollen wir im Frühling 21 das Unterwasser und die Decks malen. Vorbei am Nassen Dreieck, Münster und  Datteln erreichen wir bei Wesel den Rhein. Flussabwärts geht’s schnell nach Nijmegen in Holland und über den Verbindungskanal auf die Maas.

 

Bei Maasbracht treffen wir auf  unsere Schleusenschifferfreunde mit der Dagens2 und einen Heinz, im Endspurt um 70 zu werden. So gibt es allerhand zu feiern. Auch in Maastricht treffen wir wieder Schleusenschiffer und werden auf die Fabroso zum ausgedehnten Apero eingeladen.

 

Grenzübertritt und die Fahrt durch Belgien verlaufen eigentlich problemlos. Da wir hier in Wallonien einreisen benötigen wir keine Vignette oder deren modernes, elektronisches Pendant. Wir lassen uns aber für ein kurzes Stück vom Kanal auf die Meuse, wie die Maas jetzt heisst hinunterschleusen und der Schleusenwärter fragt nach unserer M.E.T. –Nummer welche wir fürs Fahren in Wallonien benötigen sollen. Wir haben noch nie von so was gehört und schlussendlich schleust er uns trotzdem. An der nächsten Schleuse, zurück in den Kanal werde ich per Funk aber ins Kommandohaus bestellt. Mit einem leicht mulmigen Gefühl, stammend aus Erfahrungen in Belgien vor 10 Jahren besteige ich die Treppen ins Sanktum Sanktorum. Ich bemerke den belgischen Sinneswandel aber sofort, der Schleusenwärter hier trägt kein weisses Hemd mit Kapitänspatten mehr, sondern ein dunkelblaues Poloshirt mit Aufschrift Fluvial Wallonie. Der optischen Veränderung entsprechend ist er sehr freundlich und erstellt mir sehr kompetent eine M.E.T. Nummer mit dazugehörigen Papieren. Ich schleiche mich damit ab, ohne etwas zahlen zu müssen, auch das „freiwillige“ Trinkgeld aus früheren Jahren ist kein Thema mehr!

 

Liege sieht vom Fluss aus fürchterlich aus. Die Ufer sind 10meter hoch betoniert. Wir tun der Stadt wohl Unrecht, fahren aber auch aus Zeitgründen weiter. Namur und Dinand sind aber ganz sicher Halte wert. Beide Städte begeistern mit ihrer Lage und hübschen Gebäuden. Gleich neben Dinand liegt das Dorf Leffe. Na, welcher Biertrinker kennt denn das nicht?

 

Seit Namur sind wir immer wieder mit einem Franzosen-Paar unterwegs. Sie haben eine gut 20 Meter lange Tjalk, ein zum Wohnschiff umgebautes ehemaliges holländisches Frachtschiff. Sie rufen immer wieder in Frankreich an und versorgen uns mit neuen Infos zum Kanal auf der französischen Seite. Es ist jetzt der 24. Juni und das oberste Stück Meuse-Kanal soll am 1. Juli öffnen, vielleicht (?). Man ist sich einig, dass es eine gute Idee sein wird, das dann auch gleich zu durchfahren, bevor es wegen mangelndem Wasser wieder schliesst.

 

An der französischen Grenze fragt uns der Schleusenwärter, ob wir denn wirklich durch wollen. Wir müssen ja auch eine Vignette kaufen und die können wir nicht mehr zurückgeben. Wir diskutieren aus der Tiefe der Schleusenkammer mit ihm bis er schlussendlich anbietet, für uns im obern Teil  anzurufen. Dort bestätigt man, dass der Kanal nach wie vor am 1. Juli öffnen soll. Wir kaufen gleich zur Sicherheit mal eine Jahresvignette und los geht’s. Aber wir brauchen auch noch dringend Trinkwasser. In Givet hat es Schwimmstege und nach Karte sollte Wasser und Strom erhältlich sein. Wir sehen aber keine Installationen dergleichen. Lucy geht zur Capitainerie. Dort wird sie gleich angefahren, was sie hier wolle, das sei die Covid-Station! Sie ist schnell wieder zurück im Boot. Wir fahren weiter und haben noch immer kein Trinkwasser. Die ersten beiden Schleusen, vor und nach dem Tunnel sind bedient. Der erste Schleusenwärter schickt uns zum zweiten für unser Wasser und der steht dann auch schon mit dem Schlauch bereit! Super, jetzt sind wir wieder ausgerüstet. Die Liegestellen sind alle gratis, da wegen Corona noch nicht wirklich geöffnet. So gibt’s aber auch kein Wasser und keinen Strom. Strom haben wir aber selbst genügend und Wasser jetzt auch.

 

Wohnmobile sind auch hier in Frankreich in Scharen unterwegs, Boote kommen uns aber fast keine entgegen. Wir kommen gut voran, bei Inor sind wir aber zu spät am Nachmittag und die automatische Schleuse ist schon im Feierabend. Zum Anlegen gibt’s nichts so fahren wir 100 Meter zurück auf die Meuse und ankern mitten im hier nicht mehr sehr breiten Fluss. Kein Landgang, jedenfalls nicht ohne das Dingi aufzupumpen. Am Morgen machen wir dann auch das erste Mal Bekanntschaft mit Hauptproblem Nr. 2 : verkrautete Schleusenkanäle. Teilweise geht’s hier noch gut in einigen Kanalstücken, in anderen windet sich das Kraut um die Schraube, bis diese kaum mehr was macht. Wir kämpfen uns durch diese Kanalhaltungen und wenn wieder auf dem Fluss,  gehe ich tauchen um die Schraube zu befreien. Befreiend ist dann jeweils auch das Gefühl, wenn das Schiff wieder richtig läuft und auf Manipulationen vom Steuerstand reagiert.

 

Kurzfristig meldet sich Lucys Bruder, der in Frankreich lebt, zu Besuch an. Wir vereinbaren als Treffpunkt Verdun. 2 Schleusen vorher rennt uns aber die Schleusenwärterin entgegen. Wir können nicht mehr weiter wegen einem Unfall in einer Chemiefabrik ca. 1 km weiter neben dem Kanal (wie war das damals in Basel?) Wir übernachten in Vacherauville und Bruder Isidor kommt mit seinem Auto auch dort hin. Am nächsten Morgen fragen wir bei VNF an und man sagt uns, wir könnten fahren. Nach kurzer Wartezeit kommt auch ein Schleusenwärter und wir schaffen es bis nach Verdun, nur um dort zu erfahren, dass der Kanal bei der Fabrik jetzt wieder geschlossen sei.

 

Isidor fährt noch weiter mit uns bis nach St. Mihiel. Am Tag darauf wird das Kanalfahren dann wirklich mühsam. Wir sind jetzt auf dem Abschnitt, der eben erst geöffnet hat. Es ist wohl gar nicht so eine schlaue Idee eine solche Strecke als einer der Ersten zu befahren. Das Kraut wird dichter und dichter. Man sieht den Kanal schon fast nicht mehr, er ähnelt einem nassen Gebüsch. Vorwärts, rückwärts und wieder vorwärts, rückwärts und dann wieder mal tauchen. Wir kommen weiter, aber nur langsam. An den, zwar automatischen Schleusen ist immer ein Schleusenwärter vor Ort. Die Schleusen funktionieren nicht mehr automatisch, mit all dem Heu und Gebüsch. Ein entgegenkommender Franzose schüttelt den Kopf und ruft: „Canal Misère!“.

 

Der Canal des Vosges ist noch immer geschlossen, wegen mangelndem Wasser. Dort brach im Winter ein Zuleitungskanal zum Speichersee. Im Frühling war dann VNF im Lockdown und reparierte die Zuleitung nicht. Und seit VNF wieder arbeit und die Zuleitung repariert ist, regnete es nicht mehr. Und das noch lange wodurch der Canal des Vosges für die ganze Saison 2020 nicht öffnen wird. Wir ziehen die Möglichkeit in Betracht über den Marne au Rhin nach Vitry le Francois und den Champagne Kanal an die Saone zu fahren, um dann Corre flussaufwärts auf der Saone zu erreichen. Das ist ein Unterfangen mit viel Schleusen und auch vielen Kilometern. Wenn wir gut vorankommen, sollte es aber möglich sein innerhalb der uns zur Verfügung stehenden Zeit. Eine Rechnung ohne den Wirt: Im Gespräch mit dem Schleusenwärter sagt er uns, das Fahren auf dem Marne au Rhin sei OK bis zum Tunnel, auf der andern Seite hätte es aber sehr wenig Wasser und viel mehr Kraut. An der Einmündung vom Meusekanal in den Marne au Rhin wird sofort klar, wenn der gute Teil des Kanals so aussieht, wie muss es auf der andern Seite des Tunnels wohl sein? Der Kanal hier ist komplett und bis über die Wasseroberfläche voll mit Kraut: Da fahren wir keinen Meter rein!

 

Planänderung: Wir fahren nach Toul, genauer gesagt wir schleichen nach Toul. Es gibt wieder Abschnitte, da schwimmt das Schiff auf richtigem Wasser (!) und wir kommen flott voran, dann sind wir wieder im Kraut. Wir versuchen mit unserem Notmotor, einem alten 2-Takt Aussenborder, für den ich eine Halterung hinten am Schiff angebaut habe, zu fahren. Er macht einen fürchterlichen Lärm und stinkt auch ganz besonders. Aber er treibt das Boot an. Da er für das schwere Boot einen viel zu kleinen Propeller hat dreht dieser ineffizient und sehr schnell. Das hat aber den Vorteil, dass er die Algen kaum aufleiert sondern sie abhackt. Er heisst jetzt nicht mehr einfach Notmotor, er ist jetzt „Das tapfere Schneiderlein“. Nur  ist das Kraut meist so dicht, dass es das Boot so heftig bremst, dass wir auch nur sehr langsam vorwärts kommen.

 

Wir erreichen Toul und mieten einen Hafenplatz für ein Jahr. Das ist günstiger als ein paar Monate zu zahlen. Und jetzt haben wir plötzlich Zeit. Wir müssen nirgends mehr hin und beschliessen, 2 Wochen Ferien auf der Moselle zu machen. Ganz tiefenentspannt fahren wir flussabwärts, erfreuen uns an der Stadt Metz, drehen um in Thionville, liegen wieder ein paar Tage in Metz, besuchen Pont a Mousson und Nancy und wintern La Vie schliesslich gegen Ende Juli im Hafen von Toul ein.

2020 Leer (Ostfriesland) - Ems - Münster - Rhein - Nijmegen - Maas - Maastricht - Meuse - Namur - Verdun - Toul (France)